Hans Peter Haller
Wir sollten studieren den Klang - suchen - probieren

Erinnerungen an gemeinsame Studio-
und Konzerttätigkeit mit Luigi Nono

 
Luigi Nono wird der große (geistige) Wanderer genannt, bekräf-tigt durch die von ihm immer wieder zitierte Inschrift an der Klostermauer in Toledo:
 
caminantes wandern
no hay caminos es gibt keinen Weg
hay que caminar man muß gehen

Diese Worte haben ihn in den letzten Jahren sehr beschäftigt; zwei bedeutende Werke sind entstanden:
 
Caminantes...Ayacucho (München)
No hay caminos, hay que caminar (Tokio)
 
Es wäre falsch zu glauben, Nonos Denken hätte sich seit jenem Spanienaufenthalt geändert. Luigi Nono hat selbst in einer Information über sein Werk Caminantes... das Wort caminar mit suchen übersetzt. Suchen - probieren - studieren - wer mit Nono über Jahre hindurch zusammengearbeitet hat, weiß, daß der Mensch Nono in dieser Inschrift sein eigenes Spiegelbild gefunden hat: unstetig, emotionell, suchend, versuchend, besser, anders.
 
Nono nannte die Kreuzung von arabischer, jüdischer und christlicher Kultur
 
La confusione = das Zusammen-gießen von verschiedenartigem, auch gegensätzlichem Denken - Geist - Seele.
 
Dieses Zusammenfügen von unterschiedlichen Kulturen, von Geist und Seele, war für ihn nicht abstraktes Denken, er ver-wirklichte es bis hinein in seine praktische Arbeit. So hat Nono z.B. das Instrument und den Musiker, eine Stimme und die Per-son des Sängers als eine Einheit betrachtet; in seiner Vorstellung existierte nicht nur ein akustischer Klang, sondern dieser in Ver-bindung mit der Persönlichkeit des Interpreten:
 
wir müssen lernen und studieren
 
Dieser Gedanke leitete ihn nicht nur im stillen Kämmerlein, mehr noch bei der Arbeit mit Interpreten, mit Technikern im Studio. Ein Zusammenfügen von Menschen mit unterschiedlichen Interessen - ein Studieren, das nicht auf den Spezialisten hin ausgerichtet war, sondern aus dieser Unterschiedlichkeit heraus zu vielschichtigen, in sich geschlossenen Ergebnissen führte.
 
Interpreten - Techniker, Instrumente - elektronische Geräte, Computer, Intellekt und menschliches Fühlen sind bei Luigi Nono verschmolzen (Confusione), was mich persönlich immer wieder bei unserer gemeinsamen Studioarbeit beeindruckte. So wird auch verständlich, wenn Nono in einigen Partituren nicht Instrumental- und Stimmlagenangaben machte, sondern dafür die Vornamen der Musiker, der Sprecher einsetzte (vgl. Abbil-dung auf S.39).
 
Luigi Nono hat von Beginn an alle von ihm ausgewählten Mittel wie z.B. Instrumente, Stimmen und auch die elektronische Klangumformung studiert und in seinen kompositorischen Arbeitsprozeß integriert. Kein nachträgliches Aufsetzen von Klangeffekten, sondern konsequentes Erarbeiten, Erhören neuer Klang-gestalten.
 
hay que caminar - - - - man muß suchen (gehen)
 
Jahre vor seinem Toledo-Besuch hat Luigi Nono 1980 auf seiner Suche nach neuen Klängen das Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung kennengelernt und dort bis 1989 neue Klangräume, neue Zeiträume ausgetastet, erhört. Es waren Jahre des gegenseitigen Lernens, Streitens und Verstehens. Und wenn vor wenigen Wochen in einer deutschen Tageszeitung zu lesen war, ich sei der Ziehvater von Nonos neuer Klangästhetik, so möchte ich darauf antworten: Nono wurde für mich zum Ziehvater meines eigenen musikalischen Denkens, eine Denkweise, die sich trotz vieler Teilbereiche auf das Ganze ausrichtet.
 
Nonos ästhetisches Musikdenken bestimmte nicht nur sein kompositorisches Schaffen: suchend, probierend, ausgeglichen, zerrissen, emotionell, ruhigstudierend war er auch als praktischer Musiker, als Klangregisseur seiner Werke im Konzert. Ich möchte fast sagen: in der cirka achtjährigen gemeinsamen Konzertpraxis erlebten wir keine Aufführung, die nicht aufgrund kreativer Vorbereitung und Probenarbeit von einer unglaublichen Spannung geprägt war.
 
Räume sind nicht nur architektonisch sehr unterschiedlich, vor allem ist es auch ihre Akustik. Luigi Nono komponierte in den letzten Jahren immer mehr mit dem Klang im Raum. Nicht nur die scala enigmatica von Giuseppe Verdi, mehr noch die Kirche San Marco in Venedig mit ihrer großen Raumklangtradition war in seinen Gedanken lebendig. So standen am Anfang der Überlegungen für ein neues Konzert immer zuerst die Fragen nach dem Raum und seiner Akustik: wie können wir die Klangbewegungen verändern, sollten wir den Klangraum vergrößern?
 
Beispiel: Prometeo in der Alten Oper in Frankfurt/Main
 
a) Der leere Raum, wie er uns vom Veranstalter zur Ver-fügung gestellt wurde. (Abb. S.6)
b) Plazierung der vier Orchestergruppen, Chor und Soli-sten. Standort der Dirigenten, für alle Interpreten sicht-bar. (Abb. S.7)
c) Vorläufige Aufstellung der technischen Geräte, Regie-tisch und Lautsprecher. (Abb. S.8)
d) Endgültige Aufstellung nach ersten akustischen Proben. Vorbereitung der Klangwege. (Abb. S.9)
Die Aufteilung des Raumes, seine klanglichen Eigenschaften werden Teil der Komposition. Obwohl der Notentext genau fixiert ist, hat Nono immer wieder versucht, die Interpretation den neuen akustisch-räumlichen Verhältnissen entsprechend zu verändern:
 
Hier wir sollten versuchen zu sein
noch besser
und anders.

 
Luigi Nono: Eine Komposition verändert sich mit dem Raum. Jede Aufführung in einem "anderen" Raum bedeutet eine "andere" Komposition.
 
Briefe Nonos, vor einem Konzert an mich geschrieben, endeten meist: Überlege Du bitte, um so zu probieren.
 
Nach mehreren Aufführungen von Guai ai gelidi mostri folgte 1985 die Einladung von Pierre Boulez, dieses Werk in fünf Konzerten in Paris aufzuführen. Wir besichtigten so bald wie möglich den Aufführungsraum L'espace im IRCAM. Wenige Tage danach erreichten mich Nonos Vorschläge und Fragen: In Paris zu überlegen und probieren (vgl. Abb. S.11).
 
Noch in Paris haben wir in jedem der fünf Konzerte die Lautsprecherpositionen und die akustischvariablen Wände des Raumes verändert.
 
caminar? - - gehen, suchen? (vgl.Abb S.12)
 
Suchen nach neuen Klanggestalten im Studio, im Konzert. Und wenn wir dabei auch Fehler machten; Nono: unvorhergesehene Fehler zerbrechen die Normalität und helfen uns immer neu anzufangen.
 
Nono hat in seinen Konzerten der letzten Jahre mehrfach eine sehr eigenwillige Klangregie geführt, eine Klangregie nahezu gegen seine Musik.
 
War es wirklich eine Klangregie gegen seine eigene Musik?
 
War es nicht doch ein neues Suchen durch Zerbrechen seines eigenen fixierten Schemas?  
Dies ist keine Beurteilung, sondern eine Feststellung, die mich besonders heute, wenn ich an seiner Stelle für den Klangablauf seiner Kompositionen im Konzert verantwortlich bin, beschäftigt.
Ich glaube, daß wir unser Wissen und unser persönliches Verhältnis über und zu Nonos Musik neu überdenken müssen, um nicht in schlechte Klischees zu verfallen und uns selbst in einer schwachen Kopie seines (Nonos) musikalischen Denkens und Handelns zu verlieren.
 
Luigi Nono hat uns freies Denken, freie Entscheidungen - wenn auch manchmal unverstanden geblieben - in der Interpretation seiner Musik gezeigt.
 
Luigi Nonos hat uns großartige Kompositionen hinterlassen.
 
Wir müssen sie aus unserem eigenen musikalischen Verstehen und Fühlen heraus neu interpretieren, wenn Nonos Kreativität in ihnen weiterleben soll.
 
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